Wachstum in China: seit der Finanzkrise deutlich verlangsamt … Daran ändert auch die Neue Seidenstrasse wenig
Auf der Zeitachse hat sich das chinesische Wirtschaftswachstum seit der globalen Bankenkrise von 2008/2009 stark verlangsamt, was das Wachstumsmodell Chinas, das sich auf Investitionen in Infrastruktur, Immobilien und steigende Exporte stützte, infrage stellt. Daran ändert auch die Neue Seidenstrasse wenig. In Anlehnung an die historische Seidenstrasse werden mit der Neuen Seidenstrasse (die offizielle chinesische Bezeichnung lautet übersetzt «ein Gürtel, eine Strasse») Projekte zum Auf- und Ausbau interkontinentaler Handels- und Infrastrukturnetze zwischen der Volksrepublik China und sehr vielen Ländern Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und Europas bezeichnet. Zur Finanzierung der Projekte verwendet China über Umwege auch Währungsreserven seiner Zentralbank, welche in staatseigene Investmentfonds geleitet wurden – sogenannte Schattenbanken. Mit direktem Einsatz von Fremdkapital oder durch Investitionen in das Eigenkapital von Unternehmen hebelt China den Umfang und den Einfluss dieses staatlichen Investmentpotenzials zusätzlich. Die China Investment Corporation ist mit über USD 1300 Mia. verwalteten Vermögen der grösste chinesische Staatsfonds. Er besitzt Anteile an kleineren weiteren staatlichen Anlagefonds, wie dem Silk Road Fund, der mit etwa USD 40 Mia. Vermögen zweckgebunden die Umsetzung von Projekten im Rahmen der Neuen Seidenstrasse finanziert.
Die China Investment Corporation ist mit über USD 300 Mia. verwalteten Vermögen der grösste chinesische Staatsfonds.
Grosse Abschreibungen gefährden Chinas Finanzstabilität
Aber auch Risiken für die Finanzstabilität Chinas nehmen zu, wenn man das schiere Volumen der vermuteten Kreditvergabe im Rahmen der Neuen Seidenstrasse zur Kenntnis nimmt. In einem Artikel in der Zeitschrift «Foreign Affairs» (M. Bennon, F. Fukuyama, China’s road to ruin, Foreign Affairs Sep/Oct 2023) wird das Kreditvolumen im Rahmen der Projekte der Neuen Seidenstrasse mit etwa 100 Ländern auf USD 1000 Mia. geschätzt. Offenbar überspringen aber bei Weitem nicht alle Investitionen die Rentabilitätshürde und es droht eine ruinöse Abschreibung vieler Projektfinanzierungen. Mögliche Folgen für die Kreditnehmer können am Beispiel des Hambantota-Hafens in Sri Lanka illustriert werden: Nachdem Sri Lanka 2017 mit den Zahlungen an China in Rückstand geraten war, hat sich China einen auf 99 Jahre ausgelegten Pachtvertrag für den Hafen ausbedungen, um den gewährten Kredit zu sichern. Die sogenannte chinesische Scheckbuch- iplomatie sichert sich so Einfluss auf kritische Infrastruktur und westliche Technologie.
US-Strafzölle und Ukraine-Krieg als Belastungsfaktoren für Beziehungen zum Westen
Die 2018 vom amtierenden US-Präsidenten Donald Trump gegenüber China eingeführten Strafzölle wurden spiegelbildlich erwidert. Dieser Zollkrieg bedeutete für China jedoch den Auftakt zu einer Verschlechterung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit den westlichen Industrienationen. Die Handelszölle wurden durch die Biden- dministration beibehalten und die amerikanische Öffentlichkeit nimmt China als Herausforderer der USA oder gar als feindselig wahr. Sodann haben der Ausbruch der Corona- Pandemie und die Verwerfungen bei kritischen globalen Lieferketten die wirtschaftlichen Abhängigkeiten der Vereinigten Staaten von China augenscheinlich werden lassen.
Akut wird die Rivalität zwischen den USA und China bei den ungelösten Fragen der Unabhängigkeit Taiwans sowie der Ansprüche Chinas im Südchinesischen Meer (Abb. 4) sichtbar. Die im Zweiten Weltkrieg errungene US-Dominanz im Pazifik wird herausgefordert. Die Doktrin der USA, die US-Präsident Dwight D. Eisenhower im Juni 1954 mit dem Ausruf «We have got to keep the Pacific as an American Lake» auf den Punkt brachte, gilt wohl wenig verändert auch heute noch. Somit sind China und die USA im südchinesischen Sektor des Pazifiks auf strategischem Kollisionskurs.
Abbildung 4: Chinas umstrittene Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer (Nine-dash Line)
Quelle: https://www.un.org/depts/los/clcs_new/submissions_files/mysvnm33_09/chn_2009re_mys_vnm_e.pdf
Steht der Welt ein neuer Kalter Krieg bevor?
Inwiefern diese geostrategische Rivalität auch die wirtschaftliche Kooperation beeinträchtigen wird und in einen neuen Kalten Krieg eskalieren könnte, bleibt heute offen. Die Vorzeichen stehen aber auf Sturm. Im ersten Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion von 1949 (das Jahr, in dem die Sowjetunion ihren ersten bekannten Atomtest durchführte) bis zum Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 war die gegenseitige atomare Vernichtung angedroht. Ob dabei die atomare Abschreckung erfolgreich den Krieg verhindert hat oder ob die Menschheit bloss mit viel Glück am atomaren Untergang vorbeitaumelte, ist unter Historikern umstritten. Die Eskalation eines zweiten Kalten Krieges zwischen den USA und China könnte zu einem tiefgreifenden wirtschaftlichen Rückschlag auf beiden Seiten führen.
Was bedeutet das belastete Verhältnis zu China für Anlegerinnen und Anleger?
Der oben beschriebene Entwicklungsbogen lässt sich auch am Verlauf des chinesischen Aktienmarktes verfolgen. Von Anfang 2020 bis zum 30. September 2023 hat sich der chinesische Aktienindex CSI 300, der die grössten 300 kotierten Unternehmen an den Börsen von Shenzhen oder Schanghai umfasst, unterschiedlich im Vergleich zum USund Schweizer Aktienmarkt entwickelt (Abb. 5). Natürlich sind divergierende Verläufe regionaler Aktienmärkte selten auf einzelne Faktoren zurückzuführen. Seit 2020 ist die ideologischere Haltung der chinesischen Führung für das Geschehen an den inländischen Finanzmärkten aber zweifelsohne relevanter geworden.
Abbildung 5: Chinas Aktien hinken hinterher
Quelle: BKB, Bloomberg, Total-Return-Indizes in CHF, 1.1.2020 = 100
Aus der engeren Perspektive der Wahl einer Anlagestrategie konnte man sich kaum vor den Negativszenarien schützen, die während des ersten Kalten Krieges drohten. Auch der Schutz einer Anlagestrategie vor einer abrupten und feindseligen Umkehr der Globalisierung ist kaum realisierbar. Die Marktanteile und Investitionen westlicher Unternehmen in den chinesischen Markt und deren Produktionsinfrastruktur vor Ort sind schlicht zu gross.
Die Frage stellt sich aber, ob man mit zusätzlichen direkten Anlagen in China und anderen Schwellenländern das ohnehin vorhandene Risiko nicht noch unnötig weiter erhöht. Eine möglichst breite Diversifikation über Aktien- und Obligationenmärkte aus aller Welt ist zwar theoretisch sinnvoll, allerdings kumuliert man im Portfolio damit auch das sowieso substanzielle Risiko einer Eskalation geostrategischer Spannungen.
Solche Überlegungen untermauern unsere vorsichtige und damit sehr zurückhaltende Allokation in Schwellenländer-Aktien und Schwellenländer-Obligationen, bei welcher durch die übliche Gewichtung nach Marktkapitalisierung ein grosser Teil der Mittel in die Länder China, Südkorea und Taiwan alloziert wird – dem geografischen Mittelpunkt einer befürchteten wirtschaftlichen und im schlimmsten Fall militärischen Eskalation.
Dr. Sandro Merino, Leiter Asset Management
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